Wenn ich bei Netflix was zu sagen hätte, würde ich „Der Schwarze Wal“ verfilmen ein TV-Epos über Thessaloniki in Auftrag geben. Mit den richtigen Leuten und etwas Glück wäre die Serie ein Welterfolg. Die Geschichte der Stadt ist höllisch interessant, deshalb spielt sie auch in meinem Buch eine Rolle.
Im Gegensatz zu Athen, das ungefähr 1200 Jahre einen Dornröschenschlaf hielt und noch im 19.Jahrhundert ein größeres Dorf war, besitzt Thessaloniki von der Antike an durchgehend eine byzantinisch/osmanisch geprägte Stadtgeschichte.
Die Osmanen hielten die Stadt fast 500 Jahre lang besetzt (erst 1912 fiel sie in den Balkankriegen an die Griechen zurück). Ab Ende des 15.Jahrhunderts siedelten hier auf Einladung des Sultans vertriebene Juden aus Spanien, die Sepharden. In der Folge bestand jahrhundertelang die Bevölkerung grob gesagt aus je einem Drittel Griechen, Juden und Osmanen – abzüglich der Menschen aus Südosteuropa (Tscherkessen, Walachen, Albanier u.v.a.) sowie Leute aus anderen Teilen des Reichs, die sowieso schon hier lebten.
Um 1800 – die Zeit, in der mein Buch dort spielt – hatte Thessaloniki schätzungsweise um die 60.000 Einwohner und war nach Istanbul und Smyrna (das heutige Izmir) die drittgrößte Stadt im östlichen Mittelmeer. Und schon damals berühmt für seine Cafés!
Die Menschen aus christlichen Ländern hielten Thessaloniki damals für den Rand der Zivilisation. Es lebten nur ein paar hundert von ihnen hier, sie wurden „Franken“ genannt. Es waren meist Kaufleute, Händler oder Wirtschaftskonsuln und ihre Familien. Die private Anreise muss ein Abenteuer gewesen sein: Piraten gab es in Hülle und Fülle – oft waren es verarmte Fischer oder Albaner – , an Land enführten Banden Reisende und verlangten Lösgeld – so erging es etwa einem bildungshungrigen Deutschen zu Goethes Zeiten –, Warlords und weitgehend unabhängige osmanische Provinzfürsten beherrscht das Umland – Zeichen des Niedergangs des Osmanischen Reiches. Doch trotz Gefahren wagten immer mehr Menschen aus Westeuropa die Reise nach Griechenland. Das Land und seine Geschichte waren In, es herrschte geradezu eine Hellenismus-Manie (die Großmächte unterstützten denn auch die griechischen Freiheitsbestrebungen in den 1820er Jahren).
In der fiktiven Netflix-Serie gäbe es also viel zu erzählen. Zum Beispiel über das Verhältnis der drei abrahmitischen Religionen untereinander im „Jerusalem des Balkan“. Oder über das Leben der Europäer vor Ort und ihr Handel mit Waren und deren Verschickung, wohl ein Abenteuer für sich. Man könnte sogar mystisch werden: Allerhand Aberglaube, Geisterzauber und Gegenzauber existierte angeblich, die Türen hingen voller Knoblauch. Für prachtvolle Kulissen würden Janitscharen, Derwische, Handelskarawanen, sogar Kamele sorgen! Kurz, Thessaloniki war einst eine pralle, bunte, geradezu phantastische Metropole, ein Tor des Balkans, Zentrum der drei großen monotheistischen Religionen und bedeutende Handelsstadt an der Grenze des osmanisch-christlichen Einflussbereichs.
All das ist heute Geschichte. Die Stadt hat sich völlig verwandelt.
Ein Brand zerstörte 1917 große Teile, aber auch die Bevölkerung tauschte sich aus. 1922 mussten die Türken gehen, im Zweiten Weltkrieg wurden die verbliebenen Juden deportiert. Mir schien bei meinen Besuchen immer, als wären 95% der Einwohner Griechen. Nur wer genau hinschaute, erkannte Unterschiede: Hier und da gab es überraschend hellhäutige oder gar rothaarige Einheimische – assimilierte Landsleute, Nachfahren der einstigen Multikulturalität.
Nach dem Krieg wollten die Griechen wenig von ihrer Vergangenheit wissen. Zu einem gewissen Grad war das verständlich, schließlich war die Stadt jahrhundertlang besetzt gewesen, und das noch junge Griechenland fragil; schwere Zeiten wie Zweiter Weltkrieg, anschließender Bürgerkrieg und später Diktatur erschwerten eine Aufarbeitung enorm. Die jüngste Finanz-/Eurokrise hat seine Wurzeln auch darin, dass der Staat Zeit für Reformen braucht – etwas, was man gerne unterschätzt.
Im 21. Jahrhundert ändern sich denn auch langsam die Dinge. In Thessaloniki ist seit einigen Jahren Yannis Boutaris Bürgermeister, ein Quereinsteiger. Ihn scheren weder Stolz noch Eitelkeiten, er denkt durch und durch liberal, weltoffen und gnadenlos ökonomisch. Er bekennt sich zur Vergangenheit Thessalonikis nicht zuletzt aus touristischen Gründen. Boutaris ist eine faszinierende Figur, die gerne provoziert.
Auch meinem Eindruck nach scheint ein zaghafter, aber nachhaltiger Wandel Thessaloniki zu ergreifen. Und der ist bitter nötig: Über 400 Jahre lang haben jüdische Bewohner die Stadt geprägt, was von den Griechen meist unter den Teppich gekehrt wurde, von der osmanischen Geschichte (Atatürk wurde hier geboren!) ganz zu schweigen.
Eine Netflixserie könnte bei der Aufarbeitung enorm helfen. Einen kleinen Einblick in die Geschichte liefert schon mal „Der Schwarze Wal“, wenn er im November erscheint.